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Das geschriebene Labyrinth

Die Welt ist kein statischer Ort mehr. Kein Gott zwingt uns seine barmherzige Ordnung auf. Keine gesellschaftliche Struktur scheint unumstößlich. Wahrheit ist kein Maß in dieser Zeit. Wir sind deshalb nicht zwangsläufig freier als vergangene Generationen. Doch unsere Unfreiheit ist zumindest von einer nie dagewesenen Dynamik.

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist entzaubert und entblößt, übervoll mit Wissen und gerade deshalb unverständlich und konfus. Sie ist voller Querverweise, angereichert mit Algorithmen und generierten Wirklichkeiten, die das feine Netz unserer Intersubjektivität aufbrechen. Es wird fortlaufend schwerer, die Wirklichkeit zu deuten. Stellenweise scheint sie sich jeder narrativen Interpretation zu entziehen.

Wo uns früher das Leben eines Menschen noch dem Plan eines auktorialen Erzählers zu folgen schien, den wir wahlweise Gott oder Schicksal nannten, ist es heute ein Hypertext, der seine Erzählstränge so zahlreich durch Zeit und Raum webt, dass sich bald eine verworrene Struktur ergibt, die längst den gesamten Globus umspannt und (wie alle Texte) die Grenzen der Gegenwart überwindet.

Es ergibt sich ein Netz. Doch die Knotenpunkte dieser Netzstruktur ergeben kein Muster. Sie sind undeutbar. Die Narratologie der Gegenwart operiert im Modus des Chaos. Und jeder Text sickert hinüber in den nächsten.

Sinnbild dieses neuen Text- und Existenzmodus ist die Spinne. Denn wie die Spinne ihr Netz in die Raum-Zeit spannt, knüpfen auch wir unsere Sinnstrukturen in die Welt, in jeden Winkel der Realität und darüber hinaus, sodass die Diskurse bald verlassenen Dachkammern gleichen. Denn kein Kritiker hat die Macht und die Geduld, sich zur Putzkraft des kollektiven Speichers zu erheben und die semantischen Spinnweben wieder zu entfernen.

Der allgegenwärtige Hyperlink übertrifft das herkömmliche Zeichen der Vergangenheit, indem er nicht nur auf einen Gegenstand oder Sachverhalt deutet, sondern uns dazu in ein neues Gefüge von Zeichen führt. Doch wo sich mit jedem gelesenen Absatz zehn neue Pfade auftun, herrscht eine nie dagewesene hermeneutische Orientierungslosigkeit. Der moderne Leser kann sich hier bloß noch den Hals verrenken.

Der Hypertext wächst nicht wie herkömmliche Texte. Er wuchert. Und je länger er sich ausbreitet und verzweigt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass je ein Mensch ihn in Gänze lesen, geschweige denn ausdeuten könnte. Die letzten Leser sind damit die Maschinen, denen jede Semantik fehlt.

Die Grenzen dieser neuen generativen Wirklichkeit, die sich in alle Richtungen auszubreiten scheint, werden erst dort sichtbar, wo ein Verweis ins Leere geht. Die Selbstreferenzialität der Hypertexte macht sie zu labyrinthischen Systemen ohne Ausgang und Wegweiser. Es steht uns frei, im Kreis zu wandern oder neue ziellose Wege einzuschlagen. Es ist eine Welt wie aus den Albträumen von Jorge Luis Borges oder Jean Baudrillard.

Das Umherirren wird zum Modus unserer Auseinandersetzung mit dem geschriebenen Wort. Die Linearität hat sich aus den Texten verabschiedet. Zeilenumbrüche und Absätze sind die Ecken und Winkel dieses geschriebenen Labyrinths, die Buchstaben gleichen dem Blattwerk einer Hecke, die den Blick verstellt. Und so müssen wir hinnehmen, dass wir uns in den Texten selbst verlieren, dass wir in ihnen umherstraucheln, aber kaum noch geradeausgehen können. Wobei der Plural hier bereits falsche Versprechungen macht. Denn bald sind auch die Texte nicht mehr voneinander zu unterscheiden, bald verschmelzen sie zu einem, zum einzigen Text.

Ob dieser letzte Text eine Wahrheit enthält, wird schließlich irrelevant sein. Denn selbst wenn darin alles Wichtige gesagt wäre, hätte er doch längst alle menschlichen Maßstäbe überschritten, sodass die Wahrheit im Textinnern unaufspürbar bliebe.

Es ist eine vernetzte Lebensform, deren Abhängigkeiten nahelegen, dass die geknüpften Netze nicht verbinden, sondern einfangen wie Spinnennetze, in denen wir glücklich zappeln. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass der Hypertext in seiner Form der Gegenwart ganz und gar angemessen ist. Er ist die poetologische Konsequenz einer unüberschaubaren Welt. So wird das 21. Jahrhundert zur Hyperfiktion, die wir mit jeder Handlung und jedem gesetzten Zeichen fortschreiben. Wir arbeiten unablässig am Hypertext, der auf sich selbst verweist und damit endlich der menschlichen Eigenliebe Rechnung trägt.

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